Textauszug aus Uwe Timms Roman 'Heißer Sommer', dtv, München 1998, S. 147-150

Alle riefen: Wissmann, wir kommen. Neugierige begleiteten sie. Passanten blieben stehen.

So, wie er jetzt mit ihnen zusammen ging, die Flugblätter unter dem Arm, die Hände in die Parka geschoben, fühlte er sich dazugehörig. Am Morgen hatte er sich die Parka in einem American Stock gekauft. Sie zeigte noch die Kniffe, wo sie zusammengelegt worden war. Er sah die weißen Atemfahnen der anderen in der Luft. Ihm war angenehm warm. Er hatte schon beim Aufwachen an diesen Augenblick gedacht. Er war in einer ausgelassenen Zerstreutheit in die Stadt gefahren, hatte die Parka gekauft, hatte seinen blauen Regenmantel in ein Schließfach eingeschlossen und war dann in die Bibliothek gefahren. Er hatte versucht zu lesen. Aber er hatte immer wieder daran denken müssen, wie sie das Denkmal umstürzen würden. Was würde passieren, wenn die Polizei käme? Er hatte sich nach dem Wissmann-Denkmal erkundigt und war dann hingegangen. Er wollte es sich noch mal in Ruhe ansehen, bevor sie es umrissen.

Neben dem Hauptgebäude der Uni, hinter kahlen Büschen, stand Wissmann, eine grüne Bronzestatue in Lebensgröße, auf einem Marmorsockel. Wissmann stützte die Hände auf seinen Degen, trug einen Tropenhelm und blickte über den mit Autos verstopften Dammtorplatz hinüber zur Alster. Ihm zu Füßen, vor dem Marmorsockel, stand ein Askari, ebenfalls aus Bronze, der über einen sterbenden Löwen die kaiserliche Fahne deckte.

Ullrich war enttäuscht. Er hatte sich das Denkmal aggressiver vorgestellt.

Als Junge hatte er einmal zu seinem Geburtstag ein Buch bekommen. Sein Vater hatte es, wie er damals extra betonte, mit einiger Mühe in einem Antiquariat aufgetrieben: Heia Safari, von Lettow- Vorbeck. Ullrich hatte es in wenigen Tagen verschlungen und sich vorgestellt, wie er mit einem Trupp ihm treu ergebener Askari die Engländer in die Flucht schlug. Einige Wochen lang hatte er mit den anderen Jungen zusammen in dem Unkraut der Trümmerfelder Heia Safari gespielt. Aber es kam immer wieder zu Streitereien, weil niemand die Askari spielen wollte.

Wissmann, wir kommen.

Conny in seiner grauweißen Schaffellweste stieg auf den Marmorsockel neben den grünen Bronze-Wissmann. Conny machte mit dem rechten Arm eine Gebärde. Ullrich dachte an Fotografien aus der russischen Revolution, auf denen, meist unscharf, bärtige langhaarige Männer zu sehen waren, die mit den Armen gestikulierten.

Wir haben diesen Onkel, einen tatkräftigen Vertreter des deutschen Imperialismus, schon einmal aufs Kreuz gelegt. Aber der Hamburger Senat will offenbar nicht auf öffentliche Vorbilder verzichten. Er hat Wissmann wieder aufstellen lassen. Zugleich hat der Senat aber auch das Gartenamt angewiesen, ringsum Büsche zu pflanzen. Ein Kompromiß also. Wissmann sollte bleiben, aber nur für Eingeweihte. Kritischen Blicken sollte er durch das Blattgrün entzogen werden.

Alle lachten.

Wie der redet, dachte Ullrich. So mußte man reden können, so locker und unverkrampft.

Sogar ältere Passanten waren stehengeblieben, einige lachten. Der Wind zauste Connys Haar und Bart. Ullrichs Aufregung wuchs, er verstand nicht mehr, was Conny sagte, er dachte an den Augenblick, an dem Wissmann im Gras liegen würde. Diesen Dreck einfach umreißen, das Krachen, das Klatschen. Aber da war auch Angst, wenn er daran dachte, daß es verboten war. Das alles geschah nicht heimlich, sondern vor den Augen vieler. Ein Denkmal umreißen, noch vor wenigen Tage hätte er allein den Gedanken für absurd gehalten.

Hoffentlich ist der bald fertig, dachte Ullrich, damit wir endlich anfangen können. Er konnte es kaum noch erwarten, bis er das Seil in seinen Händen spüren würde und endlich ziehen konnte.

Er hatte das Gefühl, als müßte danach alles anders sein.

Conny machte wieder eine große Armbewegung: Wir werden dieses Denkmal der Unterdrückung und Ausbeutung umreißen. Und wenn der Hamburger Senat es wieder aufstellen läßt, dann werden wir wiederkommen. Der Senat wird diesen Wettbewerb verlieren, denn dieses Monstrum läßt sich schneller umreißen als aufstellen.

Conny warf die Schlinge um Wissmanns Brust und sprang vom Sockel. Petersen, Conny, Ullrich, Lister und noch einige zogen. Aber Wissmann stand fest und unbeweglich auf seinem Sockel.

Den haben sie besonders gut verankert, sagte Petersen, der den Bronze-Wissmann schon einmal umgerissen hatte.

Nochmals zogen alle an dem Seil und der lange Lister rief sehr laut: Hau ruck.

Wissmann stand.

Von der Straße pöbelte ein Taxifahrer aus seinem Auto herüber.

Los, sagte Conny, der Klops muß runter.

Der wackelt nicht mal, sagte Erika.

Alle sahen zu Wissmann hoch.

Der Hebelpunkt ist ungünstig, sagte Ullrich und stieg auf den Sockel. Plötzlich stand er neben Wissmann. Alle starrten zu ihm hinauf. Er zerrte an dem Knoten, pulte ihn auf, zog die Schlinge hoch, legte sie um Wissmanns Hals. Das Metall war kalt gewesen. Ullrich sprang herunter, packte mit den anderen das Seil und alle riefen: Hau ruck. Wissmann wackelte. Beim zweiten Hau ruck kippte er kopfüber vom Sockel. Sein Tropenhelm bohrte sich in den braunen Rasen.

Alle klatschten, schrien und liefen durcheinander.

Der Askari blickte in einen Himmel, der jetzt von Wissmann befreit war.

1967: Studenten stürzen das Standbild Wißmanns vor der Universität Hamburg.

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