Konkurrenz der Erinnerungspolitiken
 
Lampedusa gedenkt der Bootshavarie vor einem Jahr. Innenansichten von der Insel
 
Hamburg 24.10.2014
von HMJokinen
 
Nachdenklich schaut Asoquo Okon Udo auf den Haufen Plastikflaschen mit arabischen Etiketten, umrahmt von Resten eines Schlauchboots. Wespen umsummen verblichene Tetrapacks, Rettungswesten, T-Shirts und Schuhe liegen verstreut herum. "I was lucky ­ ich hatte Glück", sagt er leise, "ich habe überlebt und konnte alle meine Kleidungsstücke im Koffer mitnehmen."
 
Asoquo Udo ist einer der Sprecher der Gruppe Lampedusa in Hamburg, die nun seit fast zwei Jahren um Bleibe- und Arbeitsrecht kämpft, doch der Senat der Hansestadt bleibt stur. Udo ist als Referent zum diesjährigen LampedusaInFestival eingeladen. Er steht jetzt in einem ehemaligen NATO-Stützpunkt an der Westspitze der sizilianischen Insel. Die Gebäude sind verwittert, zuletzt war hier ein Aufnahmelager für Migrant_innen. Sie haben an den Wänden Botschaften hinterlassen, Namen, Herkunftsorte, Handynummern. Dort ein Bild von Bob Marley, ein Graffiti "Jah Wonder", da ein Gruppenphoto mit Stacheldraht im Hintergrund. Zwei umzäunte Grundstücke schützen Radaranlagen, welche die Küste bewachen. Bei unbefugtem Betreten des Geländes Waffengebrauch, kündet das zerbeulte Schild.

 
Lampedusa, die gerade mal 20 Quadratkilometer kleine Insel, 4500 Einwohner_innen, eine Flugstunde vom sizilianischen Palermo entfernt. Die Bauweise der Häuser erinnert an den Maghreb, und werden die freundlichen Inselbewohner_innen gefragt, so fühlen sie sich eher zu Afrika hingezogen als zum fernen Europa.
 
Lampedusa in den Morgenstunden des dritten Oktobers 2013: ein Boot, aus Libyen kommend, mit schätzungsweise 545 eritreischen, somalischen und ghanaischen Kindern und Jugendlichen, Frauen und Männern an Bord nähert sich der Küste Lampedusas. Zwei Schiffe der italienischen Marine nehmen nacheinander die in Seenot geratenen Flüchtlinge in Augenschein, entfernen sich aber wieder, wie die Überlebenden berichten werden. In ihrer Verzweiflung zünden die Boat People eine Decke an, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Feuer greift um sich. Die Küstenwache braucht schließlich ganze 45 Minuten für die kurze Strecke. Was dann geschieht, wird auf der Insel erzählt: Die Rettungsmannschaften treffen nicht sofort Maßnahmen zur Hilfe, sondern lassen sich Zeit, um die Situation zuerst einmal photographisch zu dokumentieren. Vor ihren Augen ertrinken 366 Migrant_innen, 155 werden gerettet, das Schicksal von weiteren Menschen bleibt ungeklärt. Die Havarie führt zu einer kontroversen öffentlichen Debatte über die fehlgeschlagene Flüchtlingspolitik der EU.
 
Annalisa D. betreibt ein kleines Restaurant an der Via Vittorio Emanuele. Auf ihren rechten Unterarm hat sie die Form der Insel tätowieren lassen, die sich aus Abbildungen von zersplitterten Bootsplanken zusammen setzt. Aus Mitgefühl hat sie nach dem Schiffsunglück die Überlebenden und die eingeflogenen Verwandten der Ertrunkenen betreut.
 
Bootsplanken, in grün und blau gestrichen, sind häufige Zeichen auf der Insel. Auf dem Bootsfriedhof am alten Hafen, an den Stränden, als Bühnenstand für das LampedusaInFestival oder am Schaufenster des staatlichen Tourismusbüros an der Hauptstraße Via Roma, wo ein Geschäftstüchtiger daraus genagelte Kreuze feilbietet. Auch der Papst Franziskus hielt ein solch symbolträchtiges Kreuz hoch, als er im Juli 2013 auf Lampedusa predigte.

Tunesische Jazz-Improvisation: Das Achref Chaourgi Trio spielte "No Border Music" auf einer Bühne aus Planken von den Flüchtlingsbooten.
 

 
Weitaus weniger spektakulär sind die kleinen Holzkreuze, die auf dem anonymen Massengrab auf dem Friedhof von Cala Pisana in die Erde gesteckt wurden. Dazu ein paar Plastikblumen, einige Kruzifixe, unterschiedslos für Christen und Muslime, der Friedhofswärter meint es gut. Spätere Gräber wurden dann mit Marmorplatten versehen. Asoquo Udo sucht die letzte Ruhestätte der achtzehnjährigen Nigerianerin Ester Ada auf. 2009 musste das Boot vier Tage lang in Seenot zwischen Malta und Lampedusa verharren, weil die Regierungen beider Länder die Aufnahme verweigerten. Die schwangere Ester Ada starb den Dursttod.
 
Journalist Udo kommt ebenso aus Nigeria. Weil er heiße Themen wie Menschenhandel aufgriff, wurde er von Islamisten bedrängt. Er flüchtete, durchquerte zu Fuß die Sahara, arbeitete acht Jahre als Handwerker in Libyen, bis der Krieg ausbrach. Er und viele andere mussten fliehen. Udo landete auf Lampedusa, wurde dort zwei Tage festgesetzt, darauf folgte eine zweijährige Odyssee durch Siziliens Lager. Schließlich wurden die Internierten mit italienischen Papieren entlassen und nach Nordeuropa geschickt. Udo erreichte Hamburg, seine Habe nunmehr in einer Plastiktüte bei sich. Inzwischen ist er bei unterstützenden Freunden in einer kleinen Wohnung untergekommen, und er ist zum Sprachrohr der etwa 300 Lampedusa-Migrant_innen in Hamburg geworden.
 
Annalisa D. ist Mitglied der Aktivistengruppe Askavusa (sizilianisch für "barfuß"), weitere italienische Kulturschaffende, die auf Lampedusa leben oder in Brüssel, München, London und in anderen europäischen Metropolen, gehören dazu. Zusammen haben sie das Projekt PortoM gegründet, um ein Signal gegen das Sterben im Mittelmeer und das Vergessen zu setzen. In einer Seitenstraße betreibt PortoM ein kleines Museum für Strandgut. Seit Jahren sammelt die Gruppe an den Stränden Lampedusas persönliche Gegenstände der Ertrunkenen oder Geretteten: ein vom Seewasser aufgequollener Koran, eine Bibel mit Feuchtigskeitsrändern, ein Personalausweis aus Tripolis mit Brandspuren, ein zerrissenes Adressbüchlein in Somali, eine zerfetzte tunesische Flagge, ein Talisman mit Muttergottes, Flaschenpost auf Arabisch, eine Beutel mit Kassawamehl, ein Familienphoto mit Frau und Kind, Babyflaschen und Kinderspielzeug, Kämme und Rasiermesser, Geldbörsen und Jeans, Hidschabs und Schuhe, eingedellte Teekannen, verblichene Musikkassetten, zerbeultes Blechgeschirr, verrostete Kanister.

 
Zum sechsten Mal veranstaltete Askavusa nun das LampedusaInFestival, "ein kleines Fest der Inselgemeinde zu Migration, Kampf, verantwortungsbewusstem Tourismus und Geschichten des Meeres". Das diesjährige Thema der Veranstaltungen war die Sorge um die Militarisierung der Grenzen, die unmittelbar die Lebensbedingungen der Inselbevölkerung betrifft. Die Bewohnerschaft fühlt sich eh von italienischer und europäischer Unterstützung ausgeschlossen. Die Fischer beklagen sich, dass sie sich strafbar machen, wenn sie Flüchtlinge in Seenot retten. Die Gastronomen und Hoteliers sorgen sich, dass die Touristen wegbleiben. Die Frauen- und Jugendgruppen verlangen bessere Schulen und eine Krankenversorgung. Alle eint die Forderung nach einer offenen Willkommenskultur für Flüchtlinge.

Die Frauen haben sich als Le Mamme di Lampedusa zusammen geschlossen. Sie sind wütend über den Mangel an sozialen Einrichtungen auf der Insel und über Europas Migrationspolitik, die sie mit dem Flüchtlingsproblem vor Ort allein lässt.
 

 
Für den internationalen Dokumentarfilmwettbewerb des LampedusaInFestival wurden 250 Beiträge eingereicht, der Gewinner ist der Film The Land Between von David Fedele, ein bewegendes Porträt einer Community aus dem subsaharischen Afrika, die in einem Wald in Marokko vor der spanischen Enklave Melilla verharrt und auf einen günstigen Augenblick wartet, um über den technisch hoch aufgerüsteten Grenzzaun nach Europa zu klettern. Das Filmfestival wurde begleitet von Podiumsdiskussionen, Kunstinstallationen, Theateraufführungen sowie Konzerten am Meer und auf einer kleinen Bühne im Stadtzentrum. Kunstschaffende und Aktivist_innen kamen aus vielen europäischen Städten, in denen Lampedusa-Migrant_innen heute leben: neben Lampedusa in Hamburg das migrantische Berliner Handwerksprojekt Cucula, Vertreter_innen der Autonome Schule Zürich und andere.

Das Festival weitete die Vortragsorte auf die Badestrände aus. So mischten sich auch Touristen unter die Zuhörenden. An der Isola dei Gonigli berichtete Francesco Cavalli über den bis heute nicht aufgeklärten Mord an der Journalistin Ilaria Alpi, die dabei gewesen war, veruntreute Entwicklungshilfegelder, illegale Giftmülltransporte und Waffengeschäfte von Italien nach Somalia zu recherchieren.
 

 
Für Unmut bei Askavusa hatte die Nachricht gersorgt, dass die von der Bürgermeisterin Giusi Nicolini versprochene Festivalförderung von 4.000 Euro kurzfristig abgesagt wurde. Doch die Organisator_innen zeigten sich dann doch versöhnlich, als es hieß, der Betrag käme infrastrukturellen Maßnahmen auf der Insel zugute.
 
Gar kein Verständnis hatten die Inselaktivist_innen indes für das direkt anschließende Festival Sabir um den Jahrestag dritter Oktober herum. Rund 400 Gäste, Politiker_innen und Menschenrechtsorganisationen, erreichten mit charterten Flugzeugen Lampedusa, große Bühnen wurden aufgebaut, eine Pressekonferenz am Flughafen abgehalten. Es kamen der Europaparlamentspräsident Schulz, Italiens Außenministerin Mogherini und Innenminister Alfano. Als Financier des Festivals und Unterstützer der zukünftigen Infrastrukturverbesserungen auf der Insel ist der ungarische US-Multimillardär und Börsenspekulant Soros neu im Spiel.
 
Eingeladen waren auch die Überlebenden und die Hinterbliebenen der Ertrunkenen der Bootskatastrophe. Doch nicht alle wollten an der offiziellen Kranzniederlegung an der Unglücksstelle teilnehmen: sie verzichteten auf eine gemeinsame Trauerveranstaltung mit den Kapitänen der italienischen Marine, denen unterlassene oder verzögerte Hilfeleistung vorgeworfen wird sowie mit den Regierungsvertretern, die den Geretteten vor einem Jahr die Teilnahme an der Beerdigung der Verunglückten in Agrigent verwehrt hatten. Dafür viel Freude und auch geteilter Schmerz beim Wiedersehen mit den Menschen auf Lampedusa, die ihnen bei der Identifizierung der Leichen zur Seite gestanden hatten.

Trauernde beim interreligiösen Gottesdienst
Herzliches Wiedersehen: Familienangehörige eines Ertrunkenen trifft eine Inselbewohnerin
 

 
Viel Kritik ernteten die angereisten Politiker_innen, denen die lokale Bevölkerung tief misstraut. Die Aktivist_innen demonstrierten vor dem Flughafengebäude und am Schiffsfriedhof. Auf ihren Transparenten und Plakaten steht "Heuchler" und "Krokodilstränen" sowie "Wahrheit über den dritten Oktober", "kein Aufnahmelager" und "kein MUOS, keine Mafia", Themen, die unter den Nägeln brennen. Sie verlangen eine lückenlose Aufklärung und Veröffentlichung der Unglücksursachen. Sie wehren sich gegen die geplante Wiedereröffnung des Aufnahmelagers auf Lampedusa, die ja erst vor einem Jahr wegen Überfüllung und eklatanter Misstände geschlossen worden war. Und gegen das neue Küstenradarsystem MUOS, das die NATO und das italienische Verteidigungsministerium auf der Insel installieren wollen - unter Beteiligung der Finmeccanica-Gruppe, gegen die wegen Korruption und Schmiergelder in der Berlusconi-Ära ermittelt wird. Zur Migrationskontrolle und Rückweisung von Flüchtlingsbooten werden mit MUOS noch mehr unbemannte Drohnen eingesetzt. Die Aktivist_innen befürchten sowohl eine massive Zunahme der ohnehin vorhandenen Elektrosmogbelastung vor Ort als auch eine zunehmende Militarisierung der Grenzen mit Hightech und damit noch mehr Tote im Mittelmeer. Ein tunesisches Gewerkschaftsmitglied schloss sich spontan den Demonstrierenden an.

 
Europas Parlamentspräsident Schulz beteuerte bei der Sabir-Pressekonferenz, dass die EU-Kommission nun "das Thema Migration ganz oben auf die Tagesordnung setzen" werde. Ähnliches haben die Inselbewohner_innen schon vor einem Jahr gehört, doch seitdem sind mehr als 3.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
 
Nun sitzen die europäischen Entscheidungsträger wieder in ihren Büros im fernen Rom und Brüssel. Das seit einem Jahr laufende Programm "Mare Nostrum", die 140.000 Menschen in Seenot rettete, wird im November eingestampft, weil Italien die jährlichen Kosten von 100 Milllionen Euro nicht mehr allein tragen will. Als günstigere europäische Variante soll "Frontex Plus"/"Triton" eingeführt werden. Doch Frontex ist eine Grenzschutzagentur der Staatengemeinschaft und nicht für den Seenotrettungsdienst ausgerüstet. Kritiker werfen der europäischen Politik vor, dort zu knausern, wo Menschenleben akut gefährdet sind.
 
Asoquo Udo ist nach Norden zurück gekehrt. Mit Lampedusa in Hamburg veranstaltete er Mitte Oktober die Emancipation Days, mit denen die Gruppe öffentlichkeitswirksam auf ihr Anliegen aufmerksam machte. Und wieder ist die Sorge da, wo Schlafplätze für den Winter zu finden sind.
 
Auch auf Lampedusa naht der Winter, die letzten Touristen ziehen ab, doch die Insel kommt nicht zur Ruhe. Wird Annalisa D. eines Tages wieder auf dem Piazza della Libertà stehen und Spaghetti und Couscous mit Sugo auf eigene Kosten ausgeben, weil das erneut in Betrieb genommene Aufnahmelager aus allen Nähten platzt und die Versorgung nicht gewährleistet ist, genauso wie vor einem Jahr? Wird Europas Politik am nächsten dritten Oktober vor Ort auftauchen, mit viel Betroffenheitsgeste und mit einem brandneuen "Grenzmissionsprogramm"? Wieviele weitere Menschen werden bis dahin ihr Leben in den Meeresfluten lassen müssen?